Beratung aktuell, 26(2), 2025, 5–10
https://doi.org/10.30820/1437-3181-2025-2-5
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Liebe Leserschaft der Beratung aktuell,
das Cambridge Dictionary kürt »Parasozialität« zum Wort des Jahres 2025 und das aus gutem Grund; heute sind fast alle in vielfacher Weise online involviert und leben Parasozialität in irgendeiner Form.
In den meisten Haushalten sind Endgeräte ein zentraler Bestandteil der Alltagsorganisation. Online-Kalender, WhatsApp-Gruppen oder Ortungs-Apps sind selbstverständlich und habituell in den Alltag integriert. Gleichzeitig sind Smartphones und Mediennutzung oft Anlass für Konflikte in Familien, aber auch für Eifersucht in Paarbeziehungen, und es wird emotional und normativ verhandelt, wer wie lange und wofür online ist (Kleeberg-Niepage & Degen, 2022). Und: In fast allen sozialen Situationen spielt heutzutage Phubbing eine Rolle, die Unterbrechung einer sozialen Interaktion durch den Griff zum Endgerät (Bröning & Wartberg, 2022). Mit Blick auf die Wirkweise und auch in Bezug auf Lebensstil und Zufriedenheit fragen sich viele Menschen, welche Art und wie viel Medienkonsum sinnvoll und zielführend ist und die meisten vermuten neben pragmatischen Vorteilen eher negative Effekte. Dabei zeigt sich insgesamt ein breites Spektrum an Facetten der Parasozialität mit jeweils eigener Bedeutung und Logik.
Parasoziale Interaktion zeigt sich etwa im Online-Dating. Dating-Apps gelten bei vielen als einziger Ort flirtender Annäherung. Sie locken mit vielen unmittelbar verfügbaren attraktiven Möglichkeiten, bergen aber auch inhärenten Risiken für Verletzung und Missverständnisse – und damit befinden uns im Zeitalter der Dating-Erschöpfung, die über die Apps hinaus und in die Dating-Kultur insgesamt hineinragt (Degen & Kleeberg-Niepage, 2025). Außerhalb dieser Räume fürchten viele die drohende direkte Zurückweisung oder Grenzverletzungen, und so fürchten einige wachsende Vereinzelung, auch begünstigt durch die Apps und dort etablierten Praxen.
Auf Social Media geht es längst nicht nur um Informationssuche oder Unterhaltung. Nutzerinnen bauen Beziehungen zu Influencerinnen auf, die zu bedeutungsvollen Anderen für das soziale Selbst werden (Gergen, 2009). Sie folgen ihrem Alltag, erzählen Erlebtes nach, empfinden Nähe, vermissen, identifizieren und orientieren sich. Diese Beziehungen wirken nicht nur emotional, sondern auch körperlich regulierend, vergleichbar mit Face-to-Face-Kontakten. Kurzum, parasoziale Beziehungen sind soziale Beziehungen, aber sie funktionieren unter spezifischen Bedingungen, wie Einseitigkeit, Inszenierung und einem subtilen, aber stets präsenten Business Case (Degen, 2024). Parasoziale Beziehungen sind es auch, die Nutzerinnen von Social Media zu OnlyFans und anderen Subscription-Plattformen führen. Dort geht es nicht nur um den Zugriff auf sexuell explizite Inhalte, sondern auch – und mitunter vor allem – um erworbene parasoziale Gegenseitigkeit (Tynan & Linehan, 2024).
Ein neuerer Akteur im Feld der Parasozialität ist die KI. Viele nutzen Chatbots wie ChatGPT für Arbeit und Informationssuche und spätestens seit Suchmaschinen, wie Google, KI-basierte Modi integriert haben wird ein Großteil der digitalen Information von LLMs (Large Language Models) beeinflusst. Auch hier entstehen parasoziale Beziehungen, einseitig zwischen Mensch und Technik. Die parasozialen Mechanismen werden dann deutlich, wenn sich Nutzerinnen und Nutzer nach langen Arbeitstagen für die Hilfe und Leistung bedanken. Die KIs bedienen die Vermenschlichung und Beziehungsbildung, zum Beispiel indem der Chatbot Emojis schickt, lobt und anerkennt, traumasensibel spricht und nach dem Befinden fragt. Chatbots begleiten, coachen, trösten und quasi-therapieren als digitale Gefährten, KI-Therapeutinnen oder Companions (wie Replika), die Freundschaft, Intimität oder Mentorenschaft anbieten.
Parasozialität ist relevant und beraterisch und pädagogisch hochkomplex zu adressieren, weil sie vorbei an kognitiver Reflexion wirkt, ursächliche und tiefgreifende Bedürfnisse adressiert, tief im Selbst wirksam ist, zudem eine hohe epistemische Autorität beansprucht und so insgesamt schnell zur Entfremdung im Gegensatz zu einem als sinnlich erlebten, angeeigneten Leben führen kann (Degen, 2025; Hauswald, 2025).
In der psychosozialen Praxis spielt Parasozialität auf mehreren Ebenen eine Rolle: Beratende sind selbst parasozial involviert, erhalten Informationen über Medien, die verzerrt und direktiv sein können. Sie arbeiten zudem mit Menschen, deren Alltag und soziales System von Parasozialität beeinflusst sind. Und auch Beratungsprozesse selbst werden parasozial trianguliert, wenn Klientinnen Interventionen bereits aus Apps kennen oder Sitzungen über LLMs evaluieren lassen. Gleichzeitig nutzen viele Beratende selbst Parasozialität zur Organisation der Praxis, über ihre Instagram-Kanäle beim Marketing oder über digitale Beratungsformate, wobei sich Fragen zur Rolle und Verantwortung, therapeutischen Allianz, Körperlichkeit, Ko-Regulation und Ethik stellen. Niedrigschwelliger Zugriff und fundierte Informationen zur Versorgung bereitzustellen und auch Erleichterung für das eigene Arbeitsfeld gelten als positive Aspekte und Chance; und vieles funktioniert (Kubitza, 2024). Digitalisierung hat aber auch einen Preis, und es stellen sich Fragen über Zugänge und Prekarisierung – wer kann sich eine humane Therapie noch leisten und wer kann wie Qualität und Wirkweisen verantworten? Dabei wird auf der kritischen Seite mögliche Verflachung von Inhalten und Bedeutungen, Mechanisierung von Methodik und Beratungspraxis und ihren subtil-menschlichen Dynamiken und impliziten Wirkweisen in Zwischenräumen diskutiert (Possati, 2023; Zeddies, 2000).
Vielen ist die Bedeutung von Parasozialität bewusst und fast alle sind sich einig, dass sie Subjektivität, Beziehungen, Sexualität und Sozialität weit über die direkte parasoziale Interaktion hinaus prägt (u. a. Döring et al., 2024; Roesler & Bröning, 2024). Auch die Fachgesellschaften zeigen breites Interesse, bemängeln das Fehlen von Aus- und Weiterbildung und Professionalisierung. Sie beschreiben dringende Bedarfe an zuverlässigen Informationen und ambivalenter Haltung, die weder auf Ebene der Symptome verharren, noch in Gefahrenüberbetonung und Dystopie verfallen, durch Überhöhung der Technik und Selbstunterwerfung der menschlichen Leistungsfähigkeit paralysiert werden, oder der Marginalisierung (z. B. aufgrund von Hilflosigkeit und Unsicherheit) verfallen. Insgesamt zeigt sich dabei ein Bedarf an Nuancierung und Kompetenz u. a. zu Nutzungsmodi, Chancen für das eigene Feld und die Versorgung, aber auch zu Vulnerabilitäten, sowie parasozialer Anamnese, Diagnostik und Interventionen und ihrer Evaluation.
Dieses Heft greift dies auf und widmet sich der Parasozialität in nuancierter Weise und in Bezug auf unterschiedliche Facetten.
Der wissenschaftliche Beitrag von Diana Pistoll et al. (2025) eröffnet mit einem Forschungsüberblick über das Phänomen der Parasozialität im Kontext von Social Media, beleuchtet Mechanismen, Motive und Nutzungsverhalten und diskutiert Vulnerabilitäten sowie Interventionen für beraterisches Handeln.
Christiane Eichenberg und Julian Krusche (2025) werfen einen konkreten Blick auf verschiedene digitale Beratungssettings und stellen den aktuellen Forschungsstand zur Wirksamkeit von text-, video- und auf Künstlicher Intelligenz basierten Formaten vor.
Madita Hardiek (2025) untersucht mithilfe explorativer Interviews die Wirkweise personifizierter Paartherapie-Bots (Eric AI von Eric Hegmann), unter anderem hinsichtlich der therapeutischen Allianz und dem Erleben von Empathie und Effektivität aus Perspektive der Nutzerinnen.
Im Interview berichtet Ken Schönfelder (2025) aus langjähriger einschlägiger Erfahrung und seiner psychotherapeutischen Perspektive über Mediennutzung, Medienabhängigkeit und die Notwendigkeit parasozialer Kompetenz in der Beratung von Kindern und Jugendlichen.
Judith Gastner und Ludwig Schindler (2025) legen im Gespräch dar, wie sie Paaren mit ihrer App PaarBalance im blended-learning-Format Unterstützung anbieten und wie diese evaluiert wird.
Den Autorinnen und Autoren an dieser Stelle herzlichen Dank für ihre Beiträge.
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Die geplanten nächsten Hefte wenden sich in der Reihenfolge folgenden Themen zu: Paar- und Sexualtherapie im Gesundheitswesen (1/2026), Sexuelle Bildung und Beratung in Kollaboration mit Andreas Gloël und Niklas Albers von der pro familia (2/2026), und aktuelle Entwicklungen im Diskurs um Sexualität (z. B. Normalisierung von Rough Sex) (1/2027) – für die Hefte ab 2/26 nehmen wir noch Beiträge an. Jede Ausgabe bietet zudem Platz für einen freien Artikel, der nicht auf den Themenschwerpunkt begrenzt ist. Die Calls und Fristen für Ihre Einsendungen entnehmen Sie bitte der Website: beratung-aktuell.de
Wir freuen uns auf den Diskurs und Ihre Beitragszuschriften!
Ihre Herausgeberinnen Dr. Johanna L. Degen, Dr. Judith Lurweg & Monika Wacker
Bröning, S., & Wartberg, L. (2022). Attached to your smartphone? A dyadic perspective on perceived partner phubbing and attachment in long-term couple relationships. Computers in Human Behavior, 126, 106996.
Degen, J. L. (2024). Swipe, like, love. Intimität und Beziehung im Digitalen Zeitalter. Psychosozial-Verlag.
Degen, J. L. (2025). The Shaping of the Parasocial Self. Relationships and Intimacy in the Digital Era. Palgrave
Degen, J. L., Kleeberg-Niepage, A. (2025). Coping with mobile-online-dating fatigue and the negative self-fulfilling prophecy of digital dating. SN Soc Sci 5, 12. https://doi.org/10.1007/s43545-024-01042-0
Döring, N., Krämer, N., Miller, D. J., Quandt, T., & Vowe, G. (2024). Media representations of sexuality in an era of pornification. SCM Studies in Communication and Media, 13(4), 385–400.
Eichenberg, C. & Krusche, J. (2025). Von Mails, Kamera bis hin zu Chatbots: Zur Wirksamkeit und Wirkweise von text-, video- und auf Künstlicher Intelligenz basierten Formaten in der psychosozialen Beratung. Beratung aktuell. Fachjournal für Theorie & Praxis, 26(2), 29–47. https://doi.org/10.30820/1437-3181-2025-2-29
Gergen, K. J. (2009). Relational being: Beyond self and community. Oxford university press.
Hardiek, M. (2025). KI Chatbots als Paartherapie: Qualitative Einblicke in subjektive Bewertungen von Nutzungserleben und erlebte Wirkweisen des Paartherapie-Chatbots Eric AI. Beratung aktuell. Fachjournal für Theorie & Praxis, 26(2), 49–64. https://doi.org/10.30820/1437-3181-2025-2-49
Hauswald, R. (2025). Artificial epistemic authorities. Social Epistemology, 1–10.
Interview mit Ken Schönfelder (2025). »Digitale Welten, echte Herausforderungen: Ein Blick in die psychotherapeutische Praxis«, geführt von Johanna L. Degen. Beratung aktuell. Fachjournal für Theorie & Praxis, 26(2), 65–72. https://doi.org/10.30820/1437-3181-2025-2-65
Interview mit Judith Gastner & Ludwig Schindler (2025). Blended Learning. App-Unterstützung in der Paarberatung – Im Gespräch mit den Gründer*innen von PaarBalance. Beratung aktuell. Fachjournal für Theorie & Praxis, 26(2), 73–77. https://doi.org/10.30820/1437-3181-2025-2-73
Kleeberg-Niepage, A., & Degen, J. L. (2022). Between self-actualization and waste of time: young people’s evaluations of digital media time. In Children, Youth and Time (pp. 29–47). Emerald Publishing Limited.
Kubitza, E. (2024). ChatGPT als digitale Anlaufstelle für Beratungsanliegen zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Eine explorative Untersuchung. E-Beratungsjournal, 20(1).
Pistoll, D., Bröning, S. & Degen, J. L. (2025). Ich followe, also bin ich. Parasoziale Beziehungen im digitalen Raum und ihre Relevanz für beraterische Kontexte. Beratung aktuell. Fachjournal für Theorie & Praxis, 26(2), 11–27. https://doi.org/10.30820/1437 -3181-2025-2-11
Possati, L. M. (2023). Psychoanalyzing artificial intelligence: the case of Replika. AI & Soc 38, 1725–1738. https://doi.org/10.1007/s00146-021-01379-7
Roesler, C., & Bröning, S. (2024). Paarbeziehung im 21. Jahrhundert: Psychosoziale Entwicklungen und Spannungsfelder. Kohlhammer.
Tynan, L., & Linehan, C. (2024). OnlyFans: How models negotiate fan interaction. Sexuality & Culture, 28(5), 2289–2322.
Zeddies, T. J. (2000). Within, outside, and in between: The relational unconscious. Psychoanalytic Psychology, 17(3), 467.