Jessica Fern (2023), Polysecure. Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie
Beratung aktuell, 26(1), 2025, 73–77
https://doi.org/10.30820/1437-3181-2025-1-73
beratung-aktuell.de | besserlieben.de/beratung-aktuellJessica Fern ist Psychologin und Konfliktforscherin und begleitet in ihrer Praxis in North-Carolina, USA, nicht-monogame Einzelpersonen, Paare und Familien. Auf Basis ihrer Qualifikationen, u. a. in narrativer und emotionsfokussierter Therapie sowie Somatic Experiencing (SE), arbeitet sie integrativ und traumainformiert. Ihre Bücher Polysecure. Attachment, Trauma and Consensual Non-monogamy (2022) und Polywise. A Deeper Dive into Navigating Open Relationships (2023) wurden in mehrere Sprachen übersetzt und verorten sich im polypositiven, eher neoemanzipatorischen Diskursstrang.
Der Ratgeber Polysecure: Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie erschien in deutscher Übersetzung 2023 im divana Verlag. In einem Umfang von 300 Seiten behandelt das Buch in zehn Kapiteln fachliche Hintergründe zu Bindungstheorie, Traumaforschung und den Dynamiken nicht-monogamer Beziehungen sowie eine praktische Anleitung für ein Leben in sicheren, liebevollen Beziehungen.
»Dieses Buch ist mein Versuch, die Monogamie aus der Bindungsforschung herauszulösen, damit wir all dieses wunderbare Wissen über menschliche Verbindung und Bindung auf einen nicht-monogamen Kontext anwenden können« (28).So beschreibt Fern Motivation und Ziel ihrer Arbeit. Bindungsbasierte Ansätze der Paartherapie (beispielsweise die Emotionsfokussierte Paartherapie oder die Gottmann-Methode) sind mittlerweile gründlich erforscht, jedoch oft in einen mononormativen Kontext eingebettet. Mit der Hauptthese, sichere Bindung lasse sich erwerben, pflegen und mit mehreren Menschen leben, bearbeitet Fern diese Forschungslücke und erschließt das Wissen aus der Bindungsforschung für nicht-monogame Kontexte.
Fern beginnt mit einer Einführung in die klassische Bindungstheorie und bezieht sich auf das kindliche Bindungsverhalten entlang der vier Bindungsstile, die Marie Ainsworth und John Bowlby in den 1960er-Jahre erforschten. Sie erläutert anschließend mithilfe der Forschung von Mario Mikulincer und Phillip R. Shaver die Übertragung des kindlichen Bindungsverhaltens auf das Erwachsenenleben.
Durchgehend spricht sich Fern für eine differenzierte Herangehensweise und gegen eine starre Klassifizierung der Bindungsstile aus (vgl. 45). Sie plädiert dafür, das Beziehungsverhalten von Menschen als wechselseitiges Zusammenspiel aus »Bindungsangst« und »Bindungsvermeidung« zu betrachten. Mit Reflexionsfragen und Beispielaussagen macht sie den Leser*innen die einzelnen Bindungsdimensionen zugänglich. Als Grundtenor hält sie fest: »Unsere frühkindlichen Bindungserfahrungen werden zur Blaupause für die Art von romantischen Beziehungen, die wir als Erwachsene erwarten und suchen« (39). Doch das müsse nicht so bleiben: Bindungsstile seien veränderbar. Emotionale Sicherheit lasse sich auch im Erwachsenenalter erlernen und kultivieren, sodass eine »erworbene sichere Bindung« (46) entstehe.
Dafür sei es notwendig, sich mit der eigenen Bindungsgeschichte und erlebten Verletzungen auseinanderzusetzen. So beschreibt Fern, wie traumatische Erlebnisse die Beziehungsfähigkeit beeinflussen – umgekehrt wirke »eine sichere Bindungsgeschichte wie ein Schutzpuffer gegen Traumata« (98). Dieses wechselseitige Zusammenspiel von Bindung und Trauma verdeutlicht Fern in ihrem eigens entwickelten »verschachtelten Modell von Bindung und Trauma« (101). Sie verbindet damit ein Plädoyer für ein erweitertes Verständnis von Bindung und Trauma auf verschiedenen Erfahrungsebenen: das Selbst, die Beziehungen, das Zuhause, die lokale Gemeinschaft und Kultur, die Gesellschaft und das Globale oder Kollektive (vgl. 99). Ihrem Verständnis nach hat jede Ebene das Potential, Brüche und Verletzungen des Bindungssystems zu verursachen. Gleichzeitig seien auf jeder dieser Ebenen Ressourcen angesiedelt, die zu einer Heilung von erfahrenen Bindungstraumata beitragen könnten.
Der zweite Teil des Buches definiert konsensuelle Nicht-Monogamie (KNM) als »Oberbegriff für die Praxis, gleichzeitig mehrere Sexual- oder Liebespartner*innen zu haben, wobei sich alle Beteiligten der Beziehungsstruktur bewusst sind und ihr zustimmen« (127). Nach einer Vorstellung der verschiedenen nicht-monogamen Lebensmodelle wendet Fern die Prinzipien aus der Bindungsforschung auf KNM an. Sie definiert die Prämisse, dass nicht die Struktur einer Beziehung für eine sichere Bindung ausschlaggebend sei, sondern ihre emotionale Qualität (vgl. 148). Für diese Beziehungsqualität verwendet sie den titelgebenden Begriff »polysecure«:
»polysecure (polysicher) ist der Zustand, in dem sowohl eine sichere Bindung zu mehreren romantischen Partner*innen besteht, als auch genügend innere Sicherheit vorhanden ist, um die strukturelle Beziehungsunsicherheit, die mit der Nicht-Monogamie einhergeht, sowie die erhöhte Komplexität und Ungewissheit, die mit mehreren Beziehungspersonen und Metas gegeben ist, zu bewältigen. Kurz gesagt: Polysecure zu sein bedeutet, eine sichere Bindung zu sich selbst und zu mehreren Partner*innen zu haben« (155).Nicht-monogame Beziehungsstrukturen stellen im Verständnis Ferns eine besondere Herausforderung für die Beteiligten, aber auch eine Chance für korrigierende Bindungserfahrungen dar. Diese Ambivalenz zieht sich durch Ferns Erläuterungen: KNM könne sowohl sichere Bindungen gestalten lernen, als auch neue Bindungsbrüche verursachen. Die Realität der Nicht-Monogamie sei oft »kompliziert, schmerzhaft, dramatisch, verwirrend und sogar traumatisierend« (155) und KNM als Beziehungsstruktur von sich aus unsicher (vgl. 186). So werde KNM zu einem »Katalysator des Wachstums« (186), weil sie Bindungsunsicherheiten und alte Verletzungen sichtbar mache. Gleichzeitig lägen in der Umstrukturierung von Beziehung hin zu KNM auch Chancen zur Bewältigung dieser Verletzungen, wenn neue, korrigierende Bindungserfahrungen auf der Basis relationaler statt struktureller Sicherheit beruhten (vgl. 186).
Als ersten konkreten Schritt hin zu einer sicheren Beziehung rät Fern zur Klärung der Frage »Wollen wir bindungsbasierte Partner*innen sein?« (190). Füreinander Bezugspersonen zu sein, erfordere Zeit und Investition, die in manchen Lebenssituationen nicht geleistet werden könne. Die erste Basis für eine sichere Beziehung sei also die Zusage der beteiligten Personen, miteinander eine eben solche sichere Beziehung führen zu wollen.
Zweitens führt Fern in die Grundzüge des Polysecure-Seins ein: Als »schützender Hafen« könnten Partner*innen in Notlagen füreinander sorgen und einander helfen, sich zu beruhigen – die Bewegungsrichtung ist hier ein Zueinander (194). Gleichzeitig könnten sich die Partner*innen ermutigen, von einer »sicheren Basis« aus die Welt zu erkunden und Risiken und Entwicklungen einzugehen – in einer Bewegung nach außen (196).
Anhand des Akronyms HEARTS stellt Fern schließlich sechs spezifische Strategien für eine sichere Bindung in romantischen Beziehungen von Erwachsenen vor (203f.):
Da sich Polysecure sowohl an Fachkräfte als auch an ihre Klient*innen richten soll, zeichnet es sich durch eine wissens- und zugleich handlungsorientierte Schreibweise aus. Diese Verbindung von Theorie und Praxis ist zugleich als Stärke und Schwäche des Buches anzusehen.
Positiv ist die fundierte Zusammenfassung und Erweiterung der bisherigen Forschung zur Bindungstheorie auf KNM hervorzuheben. Fern ergänzt die bestehenden Ansätze um innovative eigene Modelle, erklärt komplexe psychologische Konzepte verständlich und bringt wissenschaftliche Erkenntnisse in eine anwendbare Form. Die knappen Begriffsdefinitionen sind für das Fachpersonal gerade ausreichend lang, um Verknüpfungen zu wissenschaftlichen Kontexten zu ziehen und für die Ratsuchenden kurz genug, um interessiert zu bleiben. In Grafiken, Tabellen, Aufzählungen und Fragen stellt Fern die beschriebenen Inhalte klar und verständlich dar. Besonders überzeugend erscheinen die sorgfältige Aufbereitung und die strukturierte Gliederung der Buchinhalte sowie die Aufschlüsselung in das Akronym HEARTS, in dem die wesentlichen Erkenntnisse des Buches zusammenfließen.
Negativ fällt auf, dass die empirische Basis der Aussagen manchmal unpräzise bleibt, was der Vorreiterrolle und damit einhergehenden dünnen Forschungslage, aber auch dem Ratgeber-Format des Buches geschuldet sein mag.
Ich empfehle Polysecure als Einführungswerk für Berater*innen und Therapeut*innen, die ihre Kenntnisse im Bereich Bindungstheorie und KNM erweitern möchten, unter Umständen unter Reflexion der antifeministischen Machtmechanismen der Bindungstheorie. Der Fokus der Betrachtungen Ferns liegt – trotz ihrer anfänglichen Vision, eine umfassende Kontexterweiterung der Bindungstheorie vorzunehmen – auf individueller und partnerschaftlicher Ebene, weniger auf gesellschaftlichen und strukturellen Hintergründen von erlerntem Bindungsverhalten. Wird dies reflektiert, lohnt sich das Buch vor allem für Paradigmen der Ressourcenorientierung.
Meines Erachtens können sich Berater*innen und Therapeut*innen in der Lektüre »das Beste aus beiden Welten« – aus den theoretischen und praktischen Ausführungen – zunutze machen: Sie können Polysecure als fokussierten fachlichen Input und Nachschlagewerk zu KNM nutzen und zusätzlich die Übungen und Reflexionsfragen in den Beratungen einsetzen. Das Buch eignet sich somit als konkreter Leitfaden für den Therapieprozess und als begleitende Lektüre für Klient*innen. Die Anwendbarkeit wird vor allem da deutlich, wo Fern Fallbeispiele und Reflexionsfragen bietet: Die Inhalte sind leicht auf Beratungsprozesse übertragbar, nicht nur im Kontext von KNM-Beratungen, sondern für die Arbeit mit allen Klient*innen, die sich mit der emotionalen Sicherheit in ihren Beziehungen auseinandersetzen wollen.
Dr. Judith Lurweg, Theologin und Rhetorikerin, Weiterbildungen in Systemischer Therapie (DGSF), Emotionsfokussierter Paartherapie (ICEEFT), Systemisch-integrativer Sexualtherapie und Systemisch-konstruktivistischer Didaktik. Freiberuflich tätig in eigener Praxis und Dozentin zu den Themen Kommunikation, Beziehung und Sexualität.