Polyamorie-Online-Konferenz

Beziehung als Praxis zwischen Theorie, Erfahrung und Beratung

Leonie Henning & Annika Ackermann

Beratung aktuell, 26(1), 2025, 61–63

https://doi.org/10.30820/1437-3181-2025-1-61

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CC BY-NC-ND 4.0

Seit 2023 versammelt die von Leonie Henning und Annika Ackermann initiierte Polyamorie-Online-Konferenz Fachpersonen, Aktivist*innen und Interessierte, die sich mit Beziehungsformen jenseits monogamer Normlogik befassen. Die Konferenz versteht sich als Raum kollektiver Reflexion, in dem persönliche Erfahrung, professionelle Praxis und theoretische Perspektiven in Beziehung treten. An der Konferenz im November 2024, die dieser Bericht näher beschreibt, nahmen 95 Personen teil.

Im Fokus stehen Fragen der Beziehungsfähigkeit unter Bedingungen wachsender Komplexität: Wie lassen sich Erwartungen, Grenzen und emotionale Reaktionen in Konstellationen denken und handhaben, in denen klassische Skripte nicht mehr greifen? Welche Muster wirken unterschwellig fort – auch dort, wo explizit andere Modelle gewählt werden?

Asymmetrien verstehen: Poly-Mono als Aushandlungssituation

Henning analysiert, wie Beziehungsformen zwischen polyamoren und monogamen Personen an strukturelle Grenzen stoßen. Im Zentrum steht nicht ein Plädoyer für Kompromisse, sondern die Einsicht, dass es um differenzierte Selbstklärung und Kommunikation geht – insbesondere über das, was nicht verhandelbar ist.

People Pleasing als verdeckte Dynamik

Ackermann benennt mit dem Phänomen des »People Pleasing« ein Muster, das gerade in der vermeintlich egalitären Offenheit polyamorer Konstellationen Spannungen erzeugt. Wenn Zustimmung zur Vermeidung von Konflikten erfolgt, wird Beziehung zur Performanz – und Beratungsräume werden zu Orten der Rekonstruktion persönlicher Handlungsmacht.

Transparenz jenseits von Offenheit

Sonja Jüngling entfaltet Transparenz als kontextbezogene Kompetenz: Nicht alles sagen heißt nicht lügen. Zentral ist die Fähigkeit, zwischen Relevanz, Bedürfnis und Zumutbarkeit zu navigieren – eine Herausforderung, die in komplexen Beziehungssystemen häufig unterschätzt wird. Offenheit ist kein Selbstzweck, sondern Teil einer relationalen Ethik.

Safer Heart Talk: Struktur für Unsicheres

Christina Gesings Vorschlag eines strukturierten Dialogformats zur Beziehungsanbahnung überträgt Methoden aus der sexuellen Risikokommunikation in den Bereich der emotionalen Navigation. Der Safer Heart Talk bietet Fragen, keine Antworten – aber genau darin liegt sein Wert: Er eröffnet Räume, in denen Unsagbares sagbar wird.

Eifersucht als Signal – nicht als Störung

Kim Begemann denkt Eifersucht als ein vielschichtiges Gefühl, das in offenen Beziehungen weder verdrängt noch pathologisiert werden sollte. Stattdessen plädiert Kim Begemann für eine Entfaltung seiner semantischen Tiefe: Was spricht aus dem Gefühl? Welche Verlustfantasien, welche ungesagten Bedürfnisse? Eifersucht wird zum Anlass, nicht zum Problem.

Ergebnisse und Ausblick

Die Konferenz macht deutlich, dass Polyamorie nicht als identitäre Position, sondern als relationale Praxis verstanden werden sollte. Sie verlangt Reflexion – nicht nur über Beziehung, sondern über Sprache, Macht, Körper und emotionale Ökonomie. Der Austausch zwischen Fachpraxis und Community bleibt dabei zentral: Nicht zur Herstellung von Konsens, sondern zur Anerkennung von Differenz.

Die dritte Ausgabe der Konferenz wird den Blick weiter öffnen – insbesondere für marginalisierte Perspektiven und intersektionale Spannungsfelder. Der Anspruch bleibt: Beziehung als soziale Praxis ernst zu nehmen – jenseits von Idealismus, jenseits von Anleitung.

Veranstalter*innen

Annika Ackermann ist Systemische Beraterin mit Fokus auf LGBTQ* und Polyamorie/Nicht-Monogamie. Sie bietet kink- und sexarbeitsfreundliche Beratung in Berlin und online an. Derzeit erweitert sie ihre Expertise mit einer Weiterbildung zur Sexualberaterin.

Leonie Henning (M. A., LMU) ist Heilpraktikerin, beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie, Systemikerin und Sexualtherapeutin i. A. mit Spezialisierung auf Polyamorie. Sie arbeitet in ihrer Privatpraxis in München und online mit Einzelpersonen, Paaren und Polykülen.

Gemeinsam gründeten sie im Jahr 2023 das Expert*innen Netzwerks Polyamorie (ENP), eine Fachgruppe, die Therapeut*innen und Beratende vernetzt, die mit nicht-monogamen Klient*innen arbeiten und ihnen kollegiale Beratung sowie Unterstützung bietet. Zudem veranstalten sie regelmäßig Online-Workshops zu Polyamorie.

www.netzwerk-polyamorie.de


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