Sensible Respektlosigkeit als Haltung

Vorannahmen und Stolpersteine bei konsensuell nicht-monogamen (KNM) Beziehungen in der Beratung

Kommentar

Andreas J. Jaszczuk

Beratung aktuell, 26(1), 2025, 57–59

https://doi.org/10.30820/1437-3181-2025-1-57

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CC BY-NC-ND 4.0

Konsensuell nicht-monogame Beziehungsformen treten zunehmend in der Beratungspraxis auf, sei es durch Ratsuchende, die aktiv in KNM-Beziehungen leben, oder durch Paare und Einzelpersonen, die mit dem Gedanken einer Öffnung spielen. In diesem Kontext lassen sich einige wiederkehrende Herausforderungen beobachten, die hier ohne moralisierenden Anspruch zur Diskussion gestellt werden sollen. Ziel ist nicht, die Legitimität oder das Potenzial von KNM zu hinterfragen, sondern zu beleuchten, wo es sinnvoll ist, diese Modelle trotz ihres attraktiven Images und ihrer diskursiven Aufwertung kritisch auf ihre Tragfähigkeit und Rolle zu prüfen.

Immer wieder wird KNM als vermeintliche Problemlösungsstrategie missverstanden, die im schlechtesten Fall tieferliegende Dynamiken überlagert. Zugrunde liegt dann u. a. die Idee, durch zusätzliche Möglichkeiten das sexuelle Repertoire zu erweitern oder neue emotionale Energie zu gewinnen. In manchen Fällen dient die Öffnung einer Beziehung dann nicht der Erweiterung oder authentisch co-regulierten Bedürfnissen, sondern der Vermeidung, zum Beispiel von Konflikten und Bindungsthemen.

Mitunter wird die Entscheidung für KNM auch durch einen gesellschaftlichen und medialen Druck motiviert, getrieben von dem Gefühl, »nicht alternativ genug« zu sein. Damit kann ein implizites Abwerten monogamer Lebensweisen als »vanilla« und eine Überhöhung polyamorer Lebensstile als besonders modern, erstrebenswert, feministisch und insgesamt begehrenswert einhergehen.

Oft wird KNM zudem mit Emanzipation, Egalität und einer Auflösung traditioneller Machtstrukturen assoziiert. Doch auch in KNM-Beziehungen wirken bestehende Ungleichheiten weiter und neue treten zutage. Diese Ungleichheiten zeigen sich etwa entlang von Attraktivität, ökonomischem Kapital, Alter oder Geschlecht. Gefragt werden kann dann nach Differenzlinien, Interessen, Macht und Teilhabe. In heterosexuellen Konstellationen ist zudem auffällig, dass auch dort stereotype Dynamiken reproduziert werden, z. B. wenn Männer mehrere Beziehungen eingehen wollen, die Partnerin aber nicht »teilen« möchten. Dies mag altertümlich anmuten, tritt aber auffällig oft auf. Die Asymmetrien, die in monogamen Beziehungen bestehen, werden in KNM-Kontexten nicht automatisch aufgehoben, sondern oft überlagert und mithin durch idealisierte Narrative unsichtbar gemacht (Balzarini & Muise, 2020).

Darüber hinaus stellt sich die Frage nach struktureller Teilhabe. Soziale Milieus, Bildung, geografische Lage oder infrastrukturelle Voraussetzungen wirken auch hier strukturbildend und exkludierend. Zugleich lassen sich in KNM-Modellen gesellschaftlich relevante Potenziale erkennen: Sie können eine Antwort auf den normativen Druck der Kleinfamilie darstellen, Einsamkeit abfedern und alternative Formen von Fürsorge etablieren. Studien zeigen zudem eine ähnliche Beziehungszufriedenheit im Vergleich zu monogamen Beziehungen (Rubel & Bogaert, 2015) sowie das Potenzial für konfliktarme, co-regulierte und ressourcenstarke Beziehungsgeflechte.

Insgesamt zeigen sich in der Beratungspraxis bei KNM Anliegen, die auch in dyadischen Beziehungen zentral sind (Anerkennung, Nähe, Vertrauen, Sexualität, Beziehungszufriedenheit), jedoch häufig in potenzierter und erweiterter Form: komplexere Dynamiken, Stigma und Marginalisierung, multidimensionale Rollen, verdeckte Motive und ein erhöhter Koordinationsaufwand erfordern im Beratungssetting methodische Präzision, Zeit und eine reflektierte Haltung (Mazziotta, 2021; Rodrigues, 2024; Rubinsky & Niess, 2021; Schechinger et al., 2018). Die lückenhafte Versorgungslage von KNM-Anliegen bedarf dabei einer antidiskriminierenden, neugierigen und kompetenten Beratungslandschaft, die KNM weder ablehnt oder übersieht noch überhöht (Henrich & Trawinski, 2016).

Als beraterische Haltung könnte man eine sensible Respektlosigkeit anstreben, die sich von den Idealisierungen und vermeintlichen Andersartigkeit weder blenden noch abschrecken lässt und gleichzeitig die Vulnerabilitäten und Besonderheiten neugierig und angstfrei erkundet. Zugleich zeigt sich, dass bereits vieles Notwendige an Kompetenz vorhanden ist und eine fachlich reflektierte Haltung gegenüber mononormativen Deutungsmustern und die weitergedachten, aber bewährten methodischen Zugänge gute Voraussetzungen bieten, auch in komplexeren Beziehungssettings wirksam zu arbeiten – mit dem notwendigen Bewusstsein für Mehrpersonenkonstellationen und soziale Differenz als adäquate Gesellschaftskritik.

Literatur

Balzarini, R. N., & Muise, A. (2020). Beyond the dyad: A review of the novel insights gained from studying consensual non-monogamy. Current Sexual Health Reports, 12, 398–404. https://doi.org/10.1007/s11930-020-00261-2

Henrich, D., & Trawinski, C. (2016). Social and therapeutic challenges facing polyamorous clients. Sexual and Relationship Therapy, 31(3), 1–15. https://doi.org/10.1080/14681994.2016.1174331

Mazziotta, H. (2021). Anregungen für die Beratung von Klient*innen, die in einvernehmlich nicht-monogamen Beziehungen leben (wollen). Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 53, 141–156.

Rodrigues, D. L. (2024). A narrative review of the dichotomy between the social views of non-monogamy and the experiences of consensual non-monogamous people. Archives of Sexual Behavior, 53(3), 931–940.

Rubel, A. N., & Bogaert, A. F. (2015). Consensual nonmonogamy: Psychological well-being and relationship quality correlates. Journal of Sex Research, 52(9), 961–982. https://doi.org/10.1080/00224499.2014.976781

Rubinsky, V., & Niess, S. (2021). Relational communication and consensual non-monogamy. In Oxford Encyclopedia of Queer Studies and Communication. Oxford University Press.

Schechinger, H. A., Sakaluk, J. K., & Moors, A. C. (2018). Harmful and helpful therapy practices with consensually non-monogamous clients: Toward an inclusive framework. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 86(11), 879–891. https://doi.org/10.1037/ccp0000349

Biografische Notiz

Andreas Jan Jaszczuk ist HPP, systemischer Berater, Trauma- und EMDR-Therapeut und Paarberater in eigener Praxis. Daneben ist er Geschäftsführer der Akademie für Psychologischen Wissenstransfer (APW), engagiert sich maßgeblich im psychosozialen Wissenstransfer und arbeitet als Dozent in verschiedenen beraterischen Ausbildungscurricula.


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