Interview mit Ulrich Clement, geführt von Johanna L. Degen
Beratung aktuell, 26(1), 2025, 53–55
https://doi.org/10.30820/1437-3181-2025-1-53
beratung-aktuell.de | besserlieben.de/beratung-aktuellUlrich Clement ist einer der zentralen Denker der modernen Sexualtherapie im deutschsprachigen Raum. Als systemischer Therapeut, Professor für medizinische Psychologie und Autor zahlreicher einflussreicher Werke – darunter Systemische Sexualtherapie (2004) – hat er das Verständnis von Sexualität als kommunikatives, dynamisches und oft konflikthaftes Feld geprägt. In seiner Arbeit verbindet er eine systemtheoretische Perspektive mit sexuellen Skripttheorien und untersucht, wie sich Begehren, Lust und sexuelle Identität in sozialen, kulturellen und individuellen Aushandlungsprozessen konstituieren.
Sexualität erscheint in seiner Theorie weder als reine Natur noch als bloße soziale Konstruktion, sondern als eine beständige Verhandlung zwischen persönlichen Wünschen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dabei kritisiert er pathologisierende oder normative Ansätze der Sexualwissenschaft und setzt sich für eine erweiterte, prozessorientierte und nicht-moralisierende Betrachtung von Sexualität ein.
In diesem Gespräch diskutiert Johanna L. Degen mit Ulrich Clement über Konsensuelle Nicht-Monogamie über die Veränderung der Zeit von der freien Liebe in den 1970er bis heute.
JD: Ulrich Clement, wie war die professionelle Haltung/allgemeine Meinung in Fachkreisen bzgl. Konsensueller Nicht-Monogamie (KNM) zu Beginn deiner Tätigkeit als Paar-/Sexualtherapeut?
UC: Als ich Mitte/Ende der 1970er Jahre mit Sexualtherapie anfing, gab es die Begriffe Polyamorie oder KNM noch nicht. Nonmonogames Verhalten ist ja so alt wie die Sexualität, der Konsens als moralische Markierung ist erst später aufgetaucht mit dem Begriff »Konsensmoral«, die handlungsleitend sein soll. Diese stellt die Verständigung zwischen den Sexualpartnern im Gegensatz zu einer Moral von oben, die für beide einschränkend ist, zentral.
JD: Könnte man die Verpflichtung zur Transparenz und Aushandlung nicht auch als ein moralisches Dogma beschreiben? Oder gar als wiederkehrende Tyrannei der Innerlichkeit?
UC: (lacht). Naja »Dogma« klingt mir zu katholisch und »Tyrannei« zu dramatisiert. Sagen wir: die Orientierung hat sich von einer verbietenden zu einer kommunikativen Moral entwickelt.
JD: Hat sich dein eigener Blick auf KNM im Laufe deines Berufslebens verändert?
UC: Ja.
JD: Und würdest du davon etwas nachzeichnen wollen?
UC: Ich habe in den Therapien mehr darauf geachtet, wie in Paarkonflikten Moral auch als argumentatives Kampfmittel eingesetzt wird, mit moralisierenden Vorwürfen zum Beispiel. Wer moralisiert, beansprucht damit eine überlegene Position.
JD: Wie erlebst du persönlich denn die Veränderungen im Diskurs? Ist es nur ein neues Label für ein altes Phänomen, wie die freie Liebe der 1970er Jahre? In einer Erhebung hat ein älterer Teilnehmer mal gesagt, man könne doch einfach schauen, was damals nicht geklappt hat und verstehen, wieso es auch heute nicht klappen wird.
UC: Die »freie Liebe« war ein Kulturphänomen, das auch mit politischen Visionen verbunden war, weniger mit der Intimität der Paarbeziehung. Die Legitimierungen für sexuelle Aktivität änderten sich. Der Polyamorie-Diskurs hat weit mehr das Paar im Blick als die Gesellschaft.
Die Veränderung ist weitreichend: Wir bewegen uns weg von einer Doppelmoral, von der vor allem Männer profitieren, zu einer konsensuellen Moral, die zwar theoretisch beide Geschlechter verpflichtet, praktisch aber die Selbstbestimmung der Frauen fokussiert. Dazwischen liegen Welten.
JD: Magst du ein paar typische Fehlannahmen zur aktuellen KNM mit uns teilen?
UC: Dass Polyamorie immer eine win-win-Situation ist. Die Partner, die sich polyamor verabreden, profitieren nicht unbedingt in gleichem Ausmaß davon, haben auch nicht unbedingt das gleiche Interesse daran. Zugrunde liegt oft eine asymmetrische Konstellation, wobei Eifersucht ein mächtiger Spielverderber sein kann. Eine fair ausgehandelte KNM muss diese Asymmetrien berücksichtigen, z. B. wenn es berufliche Abhängigkeiten gibt, finanzielle Ungleichheiten, wenn Kinder im Spiel, wenn einer krank ist. Sonst ist Schluss mit lustig.
JD: Polyamorie ist also nicht immer und nicht für alle Befreiung, auch hier spielt Macht eine (zu) große Rolle. Was wären denn typische Fehler in der Beratung und worauf achtest du besonders?
UC: Zunächst ist eine zentrale Frage, ob ein Paar, das polyamor lebt oder leben möchte, nicht eigentlich eine »offene Beziehung« meint, also sich in der Logik des Fremdgehens bewegt und damit etwas gelassener umgehen möchte, ohne dass die primäre Beziehung in Frage gestellt wird. Oder ob es ein Etikettenschwindel ist, der eigentlich einen Blankoscheck für einseitiges Fremdgehen meint. Manchmal ist es auch schwebende Beziehungsangst, die dann hinter derlei Labeln kaschiert statt adressiert wird.
Ich achte darauf, ob eine/r der Beteiligten einen höheren Preis zahlt, der unter dem Legitimationsschirm »Polyamorie« tabuisiert wird. Was sich oft bewährt, ist eine Einigung auf einen begrenzten Zeitraum, innerhalb dessen Erfahrungen gemacht und ausgewertet werden können.
JD: Bist du der Meinung, jede Paartherapeutin, jeder Paartherapeut zu KNM beraten, oder braucht es eigene Ausbildungen und eigene Erfahrungen dazu? Oder besser gefragt: Was braucht es, um KNM zu beraten?
UC: Man muss nicht alles selbst erlebt haben, was die Klienten beschäftigt, wichtiger scheint mir ein emotionaler Abstand, der hilft bei einer reflektierten Draufsicht; und dass man nicht die eigene Paarbeziehung zum Maßstab macht und dass man neugierig auf das bleibt, was man noch nicht kennt.
JD: Was wünschst du dem Diskurs für die Zukunft?
UC: Alles Gute!